Geparden-Beine aus Karbon

Spätestens seit den Paralympischen Sommerspielen in London 2012 hat sie jeder einmal gesehen: die j-förmigen Karbonfederprothesen, auf denen ein- und beidseitig beinamputierte Sprinter mittlerweile so schnell laufen wie ihre nicht-behinderten Sprint-Kollegen.

Der Erfinder

Der US-Amerikaner Van Phillips erfand die Sprintprothese vor genau dreißig Jahren. Wie so häufig in der Prothetik war auch in diesem Fall der Entwickler selbst betroffen: In den 70er Jahren erlitt der damals 21-jährige Phillips einen schweren Wasserskiunfall, bei dem er sein linkes Bein oberhalb des Fußgelenkes verlor. Er bekam eine Fußprothese aus Balsaholz, die zwar leicht, doch klobig und starr war.1 Phillips, der schon immer viel Sport getrieben hatte, musste nun schmerzlich feststellen, dass er mit seiner steifen Fußprothese nicht laufen und springen konnte. Sie gab die Energie, die beim Auftritt entstand, nicht wie ein physiologischer Fuß an ihren Träger zurück. Seine Unzufriedenheit mit der Holzprothese veranlasste ihn schließlich, ein Studium im Fach Prothetik zu beginnen. Nach seinem Abschluss im Jahr 1982 suchte er nach Materialien, aus denen sich eine flexible Prothese bauen ließ, mit der er eventuell wieder rennen konnte.

In dieser Zeit lernte er Dale Abildskov kennen, einen Flugbauingenieur, der ihn auf die Idee brachte, für seine geplante Prothese Karbon zu verwenden, einen Werkstoff, der hauptsächlich im Flugzeugbau verwendet wird. Karbon ist ein kohlestoffverstärkter Kunststoff,2 dessen Vorteil in seiner hohen Belastbarkeit und Festigkeit bei einem gleichzeitig sehr geringen Gewicht besteht. Phillips benötigte mehrere Versuche, bis er aus dem Karbonfasermaterial schließlich einen Prothesenfuß baute, der seinen Ansprüchen genügte:3 Inspiriert von der Form eines Geparden-Hinterbeins hatte er das Karbon in eine j-Form geschnitten, unten eine Sohle angebracht und am Prothesenschaft befestigt.4 Die Prothese funktionierte wie eine Feder: Das Gewicht, das beim Laufen auf den Prothesenfuß kam, wurde in Energie umgewandelt und an den Läufer zurückgegeben. Sie ermöglichte ihrem Träger wieder schnell zu laufen und zu springen wie mit einem natürlichen Fuß. Zusammen mit Abildskov und zwei weiteren Partnern gründete Phillips 1984 die Flex-Foot Inc., um die federnde und stoßdämpfende Prothese, die er erfunden hatte, in größeren Mengen anzufertigen und amputierten Sportlern weltweit zur Verfügung zu stellen.5

Der erste Sprinter, der sie bei den Paralympischen Spielen trug, war der US-Amerikaner Dennis Oehler.6 Er lief in Seoul 1988 mit einer flexiblen Karbonprothese, während seine Konkurrenten noch ihre Alltagsprothesen trugen. Er lief ein sagenhaftes 100-Meter-Rennen, in dem er die 12-Sekunden-Marke unterbot: In nur 11,73 Sekunden kam er weit vor seinen Mitstreitern ins Ziel.7 Von da an trugen immer mehr beinamputierte Leichtathleten eine Karbonfederprothese, die nun stetig weiterentwickelt wurde. Die auf Karbon laufenden Sprinter erzielten eine Bestzeit nach der anderen, was in den letzten Jahren dazu führte, dass sie mit dem Vorwurf des Techno-Dopings konfrontiert waren: Es wurde behauptet, beinamputierte Sprinter hätten gegenüber nicht-behinderten Spitzenläufern einen Materialvorteil, weshalb sie nicht gegeneinander antreten dürften. Außerdem verlangte das Internationale Olympische Komitee, im Behindertensport genau Regelungen einzuführen, welche Sprintprothesen erlaubt seien und welche nicht. Die Frage, ab wann ein Karbonprothesenträger einen unfairen Vorteil vor seinen behinderten oder nicht-behinderten Konkurrenten habe, wird unermüdlich diskutiert, vor allem in Hinblick auf zukünftige Weiterentwicklungen.

Die Hersteller

Momentan werden Sprintprothesen nur von den beiden größten Prothesenherstellern Össur und Otto Bock produziert. Das isländische Unternehmen Össur wurde 1971 von Össur Kristinsson in Reykjavík gegründet, wo es seinen Hauptsitz hat.8 Im Jahr 2000 übernahm Össur die von Van Phillips gegründete Flex-Foot-Inc. und gab dessen Flex-Foot-Modell den einprägsamen Namen Flex-Foot-Cheetah, auf Deutsch Gepard. Es handelt sich dabei um einen geschützten Markennamen. Der wohl bekannteste Träger der Cheetahs ist Oscar Pistorius, der während seiner aktiven Phase das Aushängeschild des Unternehmens war. Derzeit tragen etwa 90 Prozent der beinamputierten Spitzensportler ein Flex-Foot-Modell.9

Das zweite Industrieunternehmen, das Sprintprothesen fertigt, ist die Otto Bock HealthCare GmbH. Sie hat ihren Sitz in Duderstadt und wurde 1919 von dem Unternehmer Otto Bock als Orthopädische Industrie in Berlin gegründet.10 Die beiden Sprintprothesen, die das Unternehmen herstellt, tragen die im Vergleich zum Konkurrenzmodell von Össur recht unspektakulären Namen 1E90 Sprinter (für Ober- und Unterschenkelamputierte)und C-Sprint® (für Unterschenkelamputierte). Der erfolgreiche Sprinter und mehrfache Medaillengewinner Heinrich Popow ist Kunde von Otto Bock.11 Er ist einseitig oberschenkelamputiert und trägt eine Sprintprothese, die mit einem künstlichen Kniegelenk versehen ist.

Sowohl die Sprintprothesen von Otto Bock als auch die von Össur werden für Wettkampfathleten hergestellt und sind handgefertigt.12 Es handelt sich um ein Nischenprodukt, von dem Otto Bock jedes Jahr etwa 150 Stück herstellt. Das ist wenig, vor allem wenn man bedenkt, dass das deutsche Unternehmen im selben Zeitraum etwa 150 000 Alltagsfußprothesen verkauft.13

Eigenschaften

Wenn ein beidseitig amputierter Sprinter, der Karbonfederprothesen trägt, darauf wartet, dass sein Rennen beginnt, drippelt er auf der Stelle. Er kann nicht stillstehen. Das liegt daran, dass er auf seinen Sprintprothesen wie auf Zehenspitzen steht.

Eine Sprintprothese hält ein Gewicht von 400 bis 500 Kilogramm aus. Wenn sie zu sehr belastet wird, bricht sie nicht durch, sondern es reißen nur einzelne Fasern, was den Athleten vor Unfällen und Verletzungen schützt.14 Ein Nachteil von Karbon besteht darin, dass es nicht repariert werden kann: Ist die Karbonfußprothese einmal beschädigt, muss sie ausgewechselt werden. Während eine Alltagsprothese vor allem die drei C-Kriterien – Control, Comfort, Cosmetics – zu erfüllen hat, ist die Sprintprothese nur zu dem Zweck gemacht, mit ihr möglichst schnell rennen zu können.15 Doch um überhaupt auf ihr laufen zu können, muss der Träger seinen Stumpf gut trainieren und pflegen. Es sind viele Muskeln am Stumpf notwendig, um dem Gewicht, das beim Sprinten auf ihn wirkt, standzuhalten. Da die Haut an dieser Stelle empfindlich ist, bilden sich immer wieder Blasen und wunde Stellen.

Sprintprothesen eignen sich für kurze Strecken. Für den Langstreckenlauf sind andere Karbonprothesen erforderlich, wie zum Beispiel die Flex Run with Nike Sole von Össur. Laut Herstellerangaben ist sie fürs Joggen, den Triathlon und Ultramarathon geeignet.16 Sie hat eine C-Form und hält ein maximales Körpergewicht von 130 Kilogramm aus, viel weniger also als das Kurzstreckenmodell. Sie wiegt 400g, mit Sohle und Adapter 694g, was in etwa so viel ist wie ein halbes Päckchen Mehl.17 Im Breitensport, zum Beispiel beim Fußball, beim Tennis oder Basketball, tragen viele Beinamputierte ihre Alltagsprothese.

Kosten

Eine Sprintprothese ist ein Luxusgut. Die Hersteller Össur und Otto Bock verkaufen ihre Sportprothesen an Orthopädische Werkstätten, die sie an den Kunden weiterverkaufen. Der Einkaufspreis der Prothese 1E90 Sprinter von Otto Bock liegt bei ca. 2.550 Euro.18 Dieser Preis ist vor allem durch die Materialkosten gerechtfertigt, denn die Herstellung von Karbon ist sehr aufwendig. Der Verbraucher zahlt allerdings bei weitem mehr. Die orthopädischen Werkstätten verkaufen sie für bis zu 10.000 Euro, je nachdem was zum Karbonfuß noch hinzukommt.19 Um mit ihm zu laufen, ist ein perfekt sitzender Schaft vonnöten, an dem der Fuß befestigt wird. Oberschenkelamputierte benötigen außerdem ein Kniegelenk. (Siehe Obj. 1) Erschwerend zu dem Preis kommt hinzu, dass ein Profisprinter seine Feder alle sechs Wettläufe auswechseln muss, da sie mit der Zeit an Spannkraft verliert.20

Die gesetzlichen Krankenkassen müssen Beinamputierten keine Sportprothese zahlen. Bei Kindern und Jugendlichen machen sie gelegentlich Ausnahmen sowie bei Menschen, die nachweislich schon immer Sport getrieben haben und dies trotz körperlicher Einschränkung auch weiterhin tun können.21 Im Sozialgesetzbuch SGB V gemäß § 33 Abs. 1 heißt es diesbezüglich: »Versicherte haben Anspruch auf die Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg einer Krankenbehandlung zu sichern, einer bedrohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind.«22 Die Krankenkassen decken nur die elementaren Grundbedürfnisse ab, wozu die Fähigkeiten zu stehen und zu gehen gehören,23 zahlen aber keine Produkte, die dem Wunsch nach »einem speziellen Mobilitätsbedürfnis beim Sport« erwachsen.24 Allerdings entscheiden die Kassen im jeweiligen Einzelfall selbstständig, für welche Leistungen sie die Kosten übernehmen.

Die Karbonfederprothese stellt nur für wenige beinamputierte Menschen eine Option dar, weil sie hauptsächlich für diejenigen hergestellt wird, die sich dem Spitzensport verschrieben haben. Außerdem erfordert es einen enormen Willen, auf ihr laufen zu lernen, und nicht zuletzt sind die hohen Kosten, die von den Krankenkassen in der Regel nicht übernommen werden, ein Ausschlusskriterium. Dennoch kann sie als eine revolutionäre Erfindung angesehen werden, denn sie stellt eine Funktion wieder her, die beinamputierte Menschen verloren haben: Mit ihr können sie wieder rennen, und das sogar schneller als manch anderer ohne Prothesen.