Körpertechniken
Aus der Prothetik-Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums (Teil 4)
Eine Szene aus einem Stummfilm: Am Rande eines Nadelwaldes stehen fünf Männer nebeneinander. Ihre schlecht sitzenden Uniformen hängen an diesem und jenem herunter wie alte Kittel. Unterhalb ihrer linken Oberschenkel klaffen Freiräume. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Schuhe und Schenkel durch Metallgestänge verbunden sind: provisorische Prothesen, die darauf hinweisen, dass die Beine erst kürzlich amputiert worden sind. Die Einbeinigen sind zu einem speziellen Appell angetreten. Von einem Unversehrten, der vor ihnen steht, empfangen sie Befehle, nach denen sie, die Arme in die Taillen gestemmt, abwechselnd das rechte und das linke (Kunst-)Bein, steif und statisch, erst nach vorne, dann zur Seite strecken. Sodann drehen sie sich im Kreis, um schließlich, unter ungeduldig-befehlenden Gesten eines weiteren Uniformierten und mehr gezerrt als gestützt, eine Treppe hinab zu hinken. In der flackernden Bildfolge des Stummfilms wirkt jede Bewegung zackig und um ein weniges zu schnell.
Die Sequenz stammt aus dem Film »Ansichten aus dem Lazarett Jakobsberg«, den das National Hygiene-Museum 1918 in Auftrag gab.1 Der Film, der sich in der Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums (DHMD) befindet, zeigt, wie invalide gewordene Soldaten in den Gebrauch von Prothesen eingewiesen werden und damit hantieren. Das Lazarett ermöglichte Ärzten und Technikern, die Handhabung der Prothesen zu beobachten und Fehler in Konstruktion und Anwendung zu beheben.2 Zugleich ließen sie die Amputierten hier unter militärischem Drill mithilfe von Prothesen jene alltäglichen Bewegungsmuster neu einexerzieren, die mit Händen und Füßen, Armen und Beinen abhandengekommen waren.
Bewegungen sind alles andere als naturgegeben. Marschieren im Kasernenhof, Kraulschwimmen im Freibad, Spaghetti-Essen im Lieblingsrestaurant, Zähneputzen vor dem Zubettgehen – all diese Techniken werden anerzogen, nachgeahmt oder erlernt. Marcel Mauss hat dafür den Begriff »Körpertechniken« ins Spiel gebracht. Er bezeichnet damit »die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie in der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen.«3 Diese Techniken mögen historisch und regional, nach Alter und Geschlecht variieren, ihre Verwendung ist jedoch immer sozial vorgegeben. Zweck ihrer Einübung ist es, »den Körper seinem Gebrauch anzupassen« und dabei Leistungen zu erzielen.4 Mit der Amputation von Gliedmaßen geht stets eine Einschränkung der Techniken des Körpers einher. Prothesen sollen Ausgleich schaffen. Doch was bedeutet das für die Prothetik? Und was für die Körpertechniken?
Materialisierung von Körpertechniken in Prothesen
Prothesen ist grundsätzlich eine Reduktion von Körpertechniken eigen. Menschen bilden im Laufe ihres Lebens verschiedene Bewegungsarten aus. Sie lernen beispielsweise unterschiedliche Weisen des Greifens. Moderne Prothesenhände ermöglichen in der Regel jedoch nur ein oder zwei Greifarten. Aufsätze für Arbeitsarme sind sogar nur einer einzigen spezifischen Gebrauchsstellungen der Hand nachgebildet. Der Haken etwa ahmt den Tragegriff nach (s. Obj. 1), für alle anderen Griffarten taugt er aber nicht.5
Die bloße Existenz bestimmter Arten von Körperersatzteilen, wie sie in der Sammlung des DHMD vertreten sind, sagt daher etwas aus über die Relevanz, die gewissen Körpertechniken in einer Kultur zugesprochen wird – und damit über die Leistungserwartung, die sich auf die jeweiligen Körpertechniken stützt. So imitieren die Funktionsprothesen, die Armamputierte nach den Weltkriegen erhielten, Griffarten, die in Handwerk, Industrie und Landwirtschaft gefordert waren. Menschen mit Amputationen sollten in der Arbeitswelt Leistungen erbringen, entsprechende Techniken waren gefragt. Ein Prothesenaufsatz wie das Gabelmesser (s. Obj. 2) hingegen erlaubt einer beidarmig amputierten Person, Nahrungsmittel zu zerkleinern und selbständig zum Mund zu führen. Er oder sie ist damit beim Essen nicht auf die Hilfe anderer angewiesen und bleibt unabhängig. Aktuelle Laufprothesen, die durch einen prominenten Anwender, den Athleten Oscar Pistorius viel Aufmerksamkeit erhielten, verweisen schließlich auf Körpertechniken des Sports, die in den letzten Jahrzehnten breit an Bedeutung und Zuspruch gewonnen haben. Sie ermöglichen den Sprint und damit die Integration in die sportive Gesellschaft.
Körpertechniken mit Prothesen (neu) erlernen
Doch Prothesen lassen sich nicht ohne weiteres nutzen. Die Prothetik setzt voraus, dass die Trägerinnen und Träger mittels Trainings die Anwendung ihrer Kunstglieder einüben und Körpertechniken neu erlernen. Dafür werden eigens Räume und Programme geschaffen, in denen sich die Amputierten darauf konzentrieren, sich im Gebrauch der Prothesen zu schulen. Die Wiederaneignung von Körpertechniken besteht in wiederholten Trainings, bei denen Fertigkeiten erlernt werden. Während dabei in den orthopädischen Lazaretten des Ersten Weltkriegs militärischer Drill und gemeinsames Durchexerzieren vorherrschten, ist die Körperarbeit in heutigen Rehabilitationszentren, die beispielsweise Gehschulen anbieten, durch individuelle Betreuung und ein Klima medizinisch-therapeutisch angeleiteter Selbstsorge geprägt.
Mitunter müssen Trägerinnen und Träger auch neue Körpertechniken ausbilden.
Kraft übertragen: Zur aktiven Steuerung einer Prothese kann die verbliebene Muskulatur am Arm oder an der Schulter genutzt werden (s. Obj. 3). Kraftzüge übertragen Bewegungen von Stumpf oder Körper auf die Prothese und wirken auf die Prothesengelenke ein. Dabei können zur Aktivierung der Prothese auch Muskelgruppen herangezogen werden, die ohne Amputation nicht für die gewünschte Bewegung beansprucht würden. Wie diese Muskelgruppen einzubeziehen sind, muss erlernt werden.6
Muskelsignale senden: Myoelektrische Prothesen, die seit den 1960er vertrieben werden, nutzen zur Bewegungssteuerung die Muskelpotentiale im Armstumpf. Bei der Kontraktion von Muskeln entstehen elektrische Impulse, die auf der Hautoberfläche messbar sind. Diese Impulse werden von Elektroden im Prothesenschaft aufgenommen, verstärkt und an einen Elektromotor weitergeleitet, der die Prothesenhand öffnet, schließt oder dreht. Die Trägerinnen und Träger solcher Ersatzhände müssen lernen, einzelne Armmuskeln kräftig und gezielt anzuspannen, um die gewünschten Bewegungen auszuführen.7
Die Prothesentechnik entscheidet also darüber, welche Körpertechnik Trägerinnen und Träger sich anzutrainieren haben.
- 1. Ansichten aus dem Lazarett Jakobsberg, orthopädisches Lazarett des XX. A.K., Allenstein O.Pr., 1918, National Hygiene-Museum, 1:25–1:39.
- 2. Böhm, Max: Der Glied-Ersatz für den Schwerarbeiter, insbesondere für den Landwirt, Wiesbaden/Berlin 1918, S. 56ff.
- 3. Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Todesvorstellungen, Körpertechniken, Begriff der Person, Frankfurt am Main 1997, S. 199.
- 4. Mauss: Soziologie und Anthropologie 2, S. 219.
- 5. Vgl. Rostowzew-Atanassowa, Galina: Nachuntersuchung von 100 Armamputierten unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchs einer Prothese, Diss., Dresden 1968, S. 16f.
- 6. Vgl. Krieghoff, Rolf: Moderne Werkstoffe und Antriebe im Kunstglied- und orthopädischen Apparatebau, Leipzig 1969, S. 57ff.
- 7. Vgl. Gerber-Hirt, Sabine: Gliedmaßen und Gelenke, in: Dies. et al. (Hrsg.): Leben mit Ersatzteilen, München 2004, S. 85–93, S. 91.