Der »traurige Nutzwert« des Gabelmessers
Oder: Auch Superhumans haben Hunger
Die öffentliche Sicht auf die Themen Prothetik und Behinderung ist geprägt durch Medienberichte über paralympische Superathleten, körperbehinderte Models und Cyborgs, die sich von Zukunftsvisionen der 1980er Jahren mittlerweile in unsere Zeitgenossen verwandelt haben.
Das vorliegende Objekt, das Gabelmesser, lenkt die Aufmerksamkeit auf einen viel weniger spektakulären Aspekt der Prothetik, nämlich auf die lästige Bewältigung des Alltags.
Unscheinbares Objekt
Das Gabelmesser (Abb. 1) aus der Sammlung des DHMD befindet sich derzeit als Leihgabe in der Ausstellung im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden. Burkhard Müller kritisiert in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Oktober 2011, dass dieses Museum den Krieg verharmlose, indem es »Geschichte in isolierten Objekten [abbindet]«.1 Diese Objekte verwandeln sich durch den musealen Kontext laut Müller zwangsläufig »in Reliquien, in Überbleibsel vergangener Martyrien«.2 Als positive Ausnahme nennt der Autor jedoch ausdrücklich das Gabelmesser, »ein Ding von traurigem Nutzwert«, das das »Elend der Verstümmelung«3 besser veranschaulicht als die unzähligen Prothesen daneben. Aber wie kann ein so unscheinbares Objekt derart ausdrucksstark sein – sogar ausdrucksstärker als ein ganzer Prothesenarm?
Das gabelförmige Objekt hat an der Außenkante des linken der vier Zinken eine Schneidekante und kann dadurch auch als Messer verwendet werden. Das Gabelmesser ist eines von vielen auswechselbaren Werkzeugen, die an einem Prothesenunterarm mit standardisiertem Ansatz befestigt werden können, um bestimmte Funktionen der Hand zu ersetzen – in diesem Fall das Greifen und Halten des Essbestecks. Das Gabelmesser steht damit auf einer Stufe mit Haken, Ringen, Kolben, Greifklauen, Hämmern und anderen Arbeitsgeräten für ganz bestimmte Handgriffe, Aufgaben und Arbeiten.
Ein Prothesenarm, der die äußere Form der natürlichen Gliedmaße nachahmt, zeigt das Fehlen des Arms direkt. Das was fehlt, wird ersetzt. Doch der Verweis auf den fehlenden Arm bleibt abstrakt, da niemand, der zwei Arme besitzt, nachempfinden kann wie es ist, einen Arm verloren zu haben, Beim Gabelmesser ist das Verhältnis von Prothese und Fehlstelle konkreter, denn es wird nicht die fehlende Gliedmaße als Ganze nachgeahmt, sondern es wird eine spezielle Funktion der Gliedmaße ersetzt. Das Gabelmesser verweist auf eine ganz konkrete Handlung, die jeder kennt und im Alltag selbstverständlich und unbedacht ausführt und, die nach der Amputation offenbar nicht mehr selbstverständlich ist, sondern eines eigens dafür entwickelten Hilfsmittels bedarf. Daher der »traurige Nutzwert« den Müller im Gabelmesser erkennt.
Das Gabelmesser zeigt ganz banal und nüchtern die Folgen der Amputation, die nichts mit dem glamourösen Spektakel der paralympischen bzw. special-olympischen Superhumans und amputierten Supermodels zu tun hat. Behinderung ist nicht immer »super« oder »special«, sondern stellt die Betroffenen vor ganz konkrete alltägliche Probleme, die mit technischen Hilfsmitteln überwunden werden sollen.
Die selbstständige Nahrungsaufnahme, die das Gefüttertwerden durch die Eltern ablöst, gehört zu den ersten und grundlegenden ›handwerklichen‹ Fähigkeiten, die ein Mensch in seinem Leben erlernt. Gefüttert zu werden, ist bei erwachsenen Menschen gesellschaftlich nicht akzeptiert und wird in den meisten Fällen als Zeichen der Abhängigkeit und Schwäche empfunden. Auch das Essen ohne Werkzeuge gilt in vielen Gesellschaften als unangemessen. Der Verlust einer oder beider Hände stellt für die Betroffenen daher eine echte Herausforderung dar, unabhängig davon, ob sie als Fabrikarbeiter, Leistungssportler oder Model ihren Lebensunterhalt verdienen.
Das vorliegende Gabelmesser stammt vom Hersteller Otto-Bock und wird mit ca. 1950 datiert. Die Probleme der Nahrungsaufnahme gehören aber nicht der Vergangenheit an, denn es gibt auch heute noch Gabelmesser-Aufsätze für Armprothesen, die sich seit den 1950er Jahren nicht verändert haben (Abb. 2). In der Hilfsmittel-Datenbank von REHADAT sind nicht nur zwei Varianten des Gabelmessers aufgeführt, sondern auch eine Löffel-, eine Messer- und eine Taschenmesserprothese.4
Zwischen Hightech und Trick 17
Auch die Diskussionen in verschiedenen Internet-Foren belegen, dass es heute keineswegs für alle Betroffenen problemlos möglich ist, mit einer Prothesenhand zu essen. Im Gesundheitsforum von goFeminin.de schrieb eine junge Prothesenträgerin am 27.08.2005, dass sie mit der Prothese zwar eine Gabel benutzen, aber nicht Fleisch schneiden könne.5
Im Forum von MyHandicap.de schreibt ein Benutzer am 08.10.2009 über die Lock Grip Hand der Firma Becker: »Sie sind fuer Eigenkraftprothesen geeignet, dh. funktionieren via Kabelzug. Ich bin mit meiner sehr zufrieden, schlage damit auch Eier auf, manipuliere elektronische Geraete, usw. aber es geht nicht alles, Besteck festhalten ist etwas schwierig, und beim Pizza von Hand reinschieben verdreckt sie, und man hat Reinigungsaufwand«.6
Die Entwicklung neuer hochtechnisierter Arm- und Handprothesen hat in den letzten Jahren zu viel Optimismus geführt. Hoffnungen macht u. a. die High-Tech-Prothese i-limb ultra revolution von touch bionics. Diese myoelektrische Handprothese kann den Daumen und jeden der vier Finger verschieden stark öffnen oder schließen, je nachdem welches Objekt gegriffen wird. Außerdem lassen sich verschiedene Benutzungsmodi definieren und via Smartphone-App fernsteuern. Das Smartphone muss dazu allerdings in die freie gesunde Hand genommen werden. In der Bedienungsanleitung findet sich bei den häufig gestellten Fragen auch die Frage, wie man eine Gabel oder ein Messer hält. Die Antwort lautet dort: »Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Besteck zu halten. Je mehr Kontaktpunkte Sie am Besteck haben, desto stabiler können Sie es halten. Versuchen Sie, den Daumen nach außen zur Seite zu drehen, um den Griff des Bestecks zwischen Daumen und der Seite des Zeigefingers zu ergreifen. Um unterschiedliche Winkel auszuprobieren, können Sie das Besteck zwischen verschiedene Finger stecken, wie zwischen Zeige- und Mittelfinger oder zwischen Mittel- und Ringfinger«.7 Offenbar hat auch die revolutionäre i-limb keine Patentlösung parat.
In einem Forum zur Krankheit Dysmelie,8 in dem sich Betroffene und Angehörige über ihre Erfahrungen austauschen, wird immer wieder berichtet, dass gerade Kinder aber auch Erwachsene keine Prothesen tragen wollen – weder Schmuckhände, noch mechanische, noch myoelektrische. Stattdessen lernen die Betroffenen, ihre gesunde Hand oder andere Körperteile für bestimmte Aufgaben einzusetzen. Zum Thema Essen und Kochen schreibt eine Betroffene, der die linke Hand fehlt: »Alles eigentlich gar kein Problem! Entweder ich wechsele mit der rechten Hand zwischen Gabel und Messer hin und her oder (für ganz hartnäckige Dinge) klemme ich mir die Gabel links in den Ellbogen, halte damit das Essen fest und schneide mit rechts. Was die Zubereitung von Essen anbelangt, kann man mit dem stumpf wunderbar alles fixieren (z. B. Zwiebeln: Den Stumpf zum fixieren auf die Zwiebel drücken und mit rechts schneiden). Die einzige Schwierigkeit, die ich beim schneiden habe, ist bei Spargel«.9
Für viele Aufgaben müssen ›Workarounds‹ gefunden werden, also einfallsreiche Lösungen die das Problem des fehlenden Arms umgehen, anstatt ihn prothetisch zu ersetzen. Um einen Nagel beispielsweise einhändig in die Wand zu schlagen, gibt ein Benutzer folgenden Tipp: »Man braucht Knete, am besten sauber und hell, die platziert man an der Wand, wo der Nagel hin soll, dann steckt man den Nagel in einem leichten Winkel nach oben in die Knete […] [u]nd dann haut man in aller Ruhe den Nagel in die Wand«.10
Diese Beispiele zeigen, dass ein fehlender Arm nicht durch High-Tech-Prothesen alleine kompensiert werden kann. Zum lösen alltäglicher Aufgaben sind Einfallsreichtum, Übung und Geduld ebenfalls wichtig. Immer wieder geht es darum den ›Trick 17‹ in einer Situation zu finden und das kann auch bedeuten, unkonventionelle und unorthodoxe Wege zu gehen.
Behinderung und Norm
Menschen sind nicht einfach behindert oder nichtbehindert. Sie werden behindert durch die Artefakte, mit denen sie hantieren, da diese für idealtypische Benutzer entworfen werden – idealtypische Benutzer, die über zwei voll funktionsfähige Hände verfügen. Wenn die für eine Norm entwickelten Artefakte von einem Menschen benutzt werden, dessen Körper dieser Norm nicht entspricht, wird er in der Benutzung behindert. Die Interaktion zwischen Körper und Artefakt misslingt oder wird erschwert. Der Deckel vom Marmeladenglas lässt sich einhändig nicht ohne Weiteres öffnen. Der Reißverschluss an der Jacke lässt sich einhändig zwar leicht öffnen, aber nicht so leicht schließen. Die Zahnpasta auf die Zahnbürste zu befördern, ist eine Handlung, die mit einer Hand ebenfalls nicht trivial ist. Dass diese Artefakte so und nicht anders gestaltet sind, ist allerdings die Folge von impliziten Annahmen der Designer und diese beruhen wiederum auf Konventionen.
Eine körperliche Behinderung ist also mehr als nur eine körperliche Eigenschaft. Sie entsteht an der Schnittstelle von Körper und Artefakt und die Form dieser Schnittstelle wird durch soziale Konvention bestimmt. Alle drei Faktoren tragen zur Behinderung bei und um sie zu kompensieren, müssen alle drei Faktoren beachtet werden.
Ein Beispiel für eine Person, die zwar ohne Arme geboren wurde, sich davon aber nicht behindern lassen wollte, ist Carl Hermann Unthan. Unthan lernte die Füße als Ersatz für die Hände zu benutzen. Er konnte nicht nur selbstständig essen, sich waschen, anziehen und rasieren, sondern spielte auch Violine. Seine Biografie zeigt jedoch, dass die Entscheidung ohne Prothesen zu leben mindestens genauso spektakulär ist, wie ein Leben als Superhuman oder Cyborg, denn er tourte als Artist durch Europa, die USA, Mexiko, Kuba und Russland.11 Unthans unorthodoxe Methode, mit seiner körperlichen Besonderheit umzugehen, zeigt, dass es auch soziale Konventionen sind, die Menschen behindern können. Solange die Konvention verlangt, das Besteck mit zwei Händen zu halten, werden Menschen wie Unthan zwangsläufig als ›Freaks‹ gelten.
- 1. Burkhard Müller, »Militärhistorisches Museum der Bundeswehr. Reliquien der Gewalt«, Süddeutsche Zeitung, 17. Oktober 2011, Abschn. Kultur, http://www.sueddeutsche.de/kultur/militaerhistorisches-museum-der-bundes....
- 2. Ibid.
- 3. Ibid.
- 4. Vgl. REHADAT-Hilfsmittelportal, »Prothesen-Komponenten für die oberen Gliedmaßen«, zugegriffen 11. Mai 2014, http://www.rehadat-hilfsmittel.de/de/orthesen-prothesen/prothesen-obere-....
- 5. Vgl. Forum goFeminin, »Oberarmamputation«, zugegriffen 10. Mai 2014, http://forum.gofeminin.de/forum/maladies/__f156_maladies-Oberarmamputati....
- 6. Forum Stiftung MyHandicap, »was ist becker-hand«, zugegriffen 10. Mai 2014, http://www.myhandicap.de/forum.html?&tx_mmforum_pi1[action]=list_post&tx....
- 7. touch bionics, »i-limb ultra revolution Bedienungsanleitung«, April 2013, 31, http://www.touchbionics.de/downloads/MA01141DE%20iLimb%20revolution%20us....
- 8. Dysmelie ist eine angeborene Krankheit, bei der den Betroffenen Gliedmaßen fehlen oder nicht voll ausgeprägt sind.
- 9. Dysmelie-Forum, »Wie bekommt Ihr Euer Essen Portionsgerecht«, zugegriffen 11. Mai 2014, http://www.dysmelie-forum.de/forum/10-ratschlaege/2408-wie-bekommt-ihr-e....
- 10. Dysmelie-Forum, »Nagel in die Wand«, zugegriffen 11. Mai 2014, http://www.dysmelie-forum.de/forum/10-ratschlaege/4587-nagel-in-die-wand....
- 11. Poore, Carol, Disability in twentieth-century German culture (Ann Arbor: University of Michigan Press, 2007), 15.