Körperfunktion und Erscheinungsbild

Aus der Prothetik-Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums (Teil 1)

Ob Arm- oder Beinersatz, Hand- oder Fußprothese: Forschung und Technik laborieren seit jeher an dem Problem, verlorene Körperfunktionen zu ersetzen und dabei das Erscheinungsbild der Patientinnen und Patienten so gut wie möglich zu rekonstruieren. Die Sammlung des Deutschen Hygiene-Museums  (DHMD), die die Prothetik von 1870 bis in die Gegenwart dokumentiert, macht dies anschaulich: Die Objekte erzählen von der schwierigen Vereinbarkeit von Form und Funktion.

Arbeitsarme und Kosmetikhände

Patientinnen und Patienten mussten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Entscheidung zugunsten der Wiederherstellung der Körperfunktion oder des Erscheinungsbildes treffen. Besonders deutlich wird dies in der Armprothetik. Prothesenhersteller boten einerseits Funktionsprothesen für (berufs-) spezifische Handhabungen an. Mit einer natürlichen Hand hatten diese Kunstglieder aber keine Ähnlichkeit (s. Obj. 1). Andererseits konnten Betroffene ihre Amputation mithilfe so genannter Kosmetikarme verbergen, deren funktionelle Möglichkeiten sich jedoch auf ein einfaches Gegenhalten beschränken (s. Obj. 2). Daher gab es immer wieder Versuche, hohe Funktionalität und körperähnliches Aussehen miteinander zu verbinden, wie folgende Schlaglichter zeigen:

Sauerbruch-Prothese: Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) entwickelte ein chirurgisches Verfahren, um die verbliebene Muskelkraft im Amputationsstumpf zur willkürlichen Bewegung der Armprothese zu nutzen. Dabei legte er einen mit Haut ausgekleideten Kanal durch die Muskulatur. Durch diesen Kanal führte er einen Elfenbeinstift, der Muskulatur und Prothese über einen Drahtzug verband. Der Träger oder die Trägerin konnte nun durch Muskelbewegungen seine Prothese steuern. Die Prothesenhand entsprach der anatomischen Form einer menschlichen Hand. Die Sauerbruch-Prothese konnte z. B. auch für handwerkliche Arbeiten verwendet werden.1

Myoelektrische Prothese: 1959 wurde der Öffentlichkeit erstmals eine myoelektrische Armprothese präsentiert, die die Sauerbruch-Prothese rasch verdrängte. Dieser Prothesentyp nutzt zur Bewegungssteuerung die Muskelpotentiale im Armstumpf.2 Bei der Kontraktion von Muskeln entstehen elektrische Impulse, die auf der Hautoberfläche messbar sind. Diese Impulse werden von Elektroden im Prothesenschaft aufgenommen, verstärkt und an einen Elektromotor weitergeleitet, der die Prothesenhand öffnet, schließt oder dreht.3

Bei der Fertigung von Kunstbeinen war das Problem der Vereinbarkeit von Form und Funktion kaum einfacher zu bewältigen. Die Bewegungsmöglichkeit der Beine mag weniger komplex erscheinen als die der Hände, doch auch sie erlauben mannigfache Bewegungsarten. Zudem tragen Beine das gesamte Körpergewicht und halten großen Belastungen stand. Der Prothesenbau versuchte auch hier mit verschiedenen  Strategien, Form und Funktion auf einen Nenner zu bringen – ein Unterfangen, das nie ganz gelang:

Prothesen in Schalenbauweise: Seit 1919 ist es möglich, Prothesen in Schalenbauweise herzustellen. Die industriell gefertigten Passteile werden den Bedürfnissen und Ansprüchen der Trägerinnen und Träger entsprechend ausgewählt und über einen individuell angefertigten Schaft mit dem Körper verbunden. Solche Prothesen bestehen zumeist aus Holz und Kunststoff und übernehmen sowohl tragende als auch formende Funktion. Da sie stabil und pflegeleicht sind und ein geringes Gewicht haben, eignen sie sich besonders gut für schwere und schmutzige Arbeiten. Allerdings wirken ihre harten Außenflächen unnatürlich.4

Modular-Prothesen: Bei den Ende der 1960er Jahre aufkommenden Modular-Prothesen übernimmt ein Rohrskelett die Funktionen des Beins (s. Obj. 3). Das Rohrskelett kann durch eine kosmetische Verkleidung aus Schaumstoff verdeckt werden. Sie verleiht der Prothese die Anmutung eines Beins und kaschiert so die Amputation. Allerdings übt die Verkleidung eine Bremswirkung auf die Gelenke aus, hält starker mechanischer Beanspruchung kaum Stand und ist empfindlich gegen Nässe, Hitze und Sonnenlicht.5

Die Kunstbeine des Landwirts

Prothesenträgerinnen und -träger müssen also stets mit Einschränkungen rechnen. Sofern sie über unterschiedliche Prothesentypen verfügen, können sie sich damit behelfen, je nach Anlass ein anderes Kunstglied anzulegen. Dies zeigt das Beispiel eines sächsischen Landwirts (1915–2001), der im Zweiten Weltkrieg sein rechtes Bein verloren hatte. Fünf seiner Oberschenkelprothesen, die er sich zwischen 1950 bis 1993 nach und nach hatte herstellen lassen, befinden sich heute im Sammlungsbestand des DHMD.

Sein erstes Kunstbein war ein Stelzfuß (s. Obj. 4). Die Bauweise dieses Kunstgliedes ist vergleichsweise einfach. Es stellt vermutlich die früheste Art der Prothese dar und blieb bis in die Neuzeit die Standardversorgung für Menschen mit Ober- und Unterschenkelamputationen.6 Der Landwirt nutzte seit 1950 einen Stelzfuß, um seiner Arbeit auf Feld und Hof nachzugehen zu können. Offenbar war er mit dieser Art der Prothese sehr zufrieden, denn 1971 erhielt er erneut ein Stelzbein, das sich heute in der Sammlung des DHMD befindet. Es ist mit einem ledernen Schaft versehen, der den Stumpf des Trägers fest umfing. Da sich der Schaft mit der Zeit weitete und nicht mehr gut saß, zog der Landwirt zusätzlich Stumpfstrümpfe an. Mit Gurten befestigte er das Bein am Oberkörper. Der Stelzfuß verfügt über eine mechanisch auslösbare Kniegelenkfeststellung, über die sich das Gelenk fixieren ließ. Neben der zweidimensional wirkenden Bauweise des Beins fällt insbesondere der Prothesenfuß ins Auge: Der mit schwarzer Gummisohle versehene Fuß ist lediglich angedeutet. Seine Form erinnert an einen Huf. Vermutlich konnte diese ebenso schlichte wie solide Prothesenkonstruktion der Arbeit des Landwirtes in unwegsamem Gelände, auf Feld und Weide besonders gut standhalten.

Doch offenbar genügte der Stelzfuß spätestens 1965 nicht mehr, um den Alltag zu meistern. Nun beschaffte sich der Landwirt zwei Prothesen in Schalenbauweise, von denen er aber die eine kaum trug, weil der kurze Stumpf fortwährend aus dem Schaft rutschte.7 Die andere zog er nur an, um seine Behinderung zu tarnen, wenn er mit anderen Menschen zusammentraf.  Zwanzig Jahre später bekam er sein drittes Kunstbein, ebenfalls in Schalenbauweise gefertigt, und 1993 schließlich noch eine mit Schaumstoffbezug versehene Modular-Prothese. Wie er diese beiden Prothesen verwendete, ist nicht überliefert. Vermutlich benutzte er sie gar nicht, denn sie zeigen keine Spuren. Alle vier Prothesen unterscheiden sich massiv vom Stelzfuß. Für die fordernde, schmutzige Arbeit in der Landwirtschaft waren sie weniger geeignet. Sie konnten aber die Behinderung besser kaschieren als das hufbewährte Holzbein. So verfügte der Landwirt über ein Arbeitsbein und vier weitere Prothesen, von denen ihm zumindest eines sicher als »Sonntagsbein« diente.

Der sächsische Landwirt ist kein Einzelfall. Auch andere Prothesenträgerinnen und -träger besaßen mehrere Kunstglieder, die sie je nach Anlass anlegten – je nachdem, ob die Funktion oder die Erscheinung gefragt war. Dies zeigt die Sammlung des DHMD, in der solche Körperersatzteile überliefert sind. 

Geschichte ohne Brüche?

Prothetik zwischen Rekonstruktion von Körperfunktionen und Erscheinungsbildern – eine Geschichte, die sich durch die Jahrzehnte zieht, eine Geschichte ohne Brüche. Mit Blick auf die Sammlung des DHMD, die die Prothetik des 20. und frühen 21. Jahrhunderts dokumentiert, drängt sich dieses Fazit auf.

Gilt es auch für die Gegenwart? Oder lassen sich derweil neue Trends beobachten? Das Marketing von Prothesenherstellern vermittelt den Eindruck, dass Nutzerinnen und Nutzer heute gerne zugunsten guter Funktionalität auf kaschierende Verkleidungen verzichten und die Technik am Körper unbefangen zur Schau zu stellen (s. Abb. 1). Falls diese Darstellungen tatschlich dem Alltag der Trägerinnen und Träger entsprechen, so stellt sich die Frage, ob darin ein neues Verhältnis zu köperassoziierter Technik und ein Wandel von Körperbildern zum Ausdruck kommt. Eine Amputation wäre demnach keine Abweichung mehr, die es bei Bedarf zu verstecken gilt. Von Interesse wäre in erster Linie die Wiederherstellung eines in allen Lebenslagen funktionsfähigen Körpers mithilfe entsprechender Prothesen.

Doch die Bedürfnisse sind nach wie vor unterschiedlich. So bemerkt Kirsten Abel, Sprecherin des Bundesinnungsverbandes Orthopädietechnik: »Es gibt Menschen, die möchten eine möglichst unauffällige Prothese. Und es gibt den anderen Typ, der sagt: Ich zeige meine Prothese gern.«8 Nur dass letzterer nicht mehr zum Stelzfuß greift, sondern zur Hightech-Prothese, deren technische Anmutung und individuelles Design signalisieren, dass ihr Träger oder ihre Trägerin voll im Leben steht.

  • 1. Vgl. Karpa, Martin Friedrich: Die Geschichte der Armprothese unter besonderer Berücksichtigung der Leistung von Ferdinand Sauerbruch (1875–1951), Diss., Essen 2004; Ruisinger, Marion Maria (Hrsg.): Die Hand des Hutmachers, Ingolstadt 2014.
  • 2. Vgl. Habermann, H.: Zur Geschichte der Technischen Orthopädie, in: K.-D. Thomann: Tradition und Fortschritt in der Orthopädie, Stuttgart 1985, S. 92–109, S. 105.
  • 3. Vgl. Gerber-Hirt, Sabine: Gliedmaßen und Gelenke, in: Dies. et al. (Hrsg.): Leben mit Ersatzteilen, München 2004, S. 85–93, S. 91.
  • 4. Vgl. Baumgartner, René/Botta, Pierre: Amputation und Prothesenversorgung, Stuttgart/New York 2007 (3. Aufl.); Gerber-Hirt, Sabine: Gliedmaßen und Gelenke, in: Dies. et al. (Hrsg.): Leben mit Ersatzteilen, München 2004, S. 85–93, S. 86 ff.; Näder, Max/Näder, Hans Georg: Otto Bock Prothesen-Kompendium. Prothesen für die unteren Extremitäten, Duderstadt 1993 (2. Aufl.).
  • 5. Vgl. Baumgartner, René/Botta, Pierre: Amputation und Prothesenversorgung, Stuttgart/New York 2007 (3. Aufl.); Näder, Max/Näder, Hans Georg: Otto Bock Prothesen-Kom­pendium. Prothesen für die unteren Extremitäten, Duderstadt 1993 (2. Aufl.), S. 6, S. 28.
  • 6. Vgl. Burhenne, Verena (Hrsg.): Prothesen von Kopf bis Fuß, Münster 2003, S. 119 f.
  • 7. Diese Prothese verfügt über einen Saugschaft. Vermutlich kam der Träger nicht damit zurecht, die Prothese wurde daher mit Leder ausgekleidet und mit Leibgurten versehen.
  • 8. Prothese mit Tattoo: Design-Trend ist in der Orthopädie angekommen, in: Süddeutsche.de, 21.05.2014. http://www.sueddeutsche.de/news/gesundheit/gesundheit-prothese-mit-tattoo-design-trend-ist-in-orthopaedie-angekommen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101–140521-99–02861 (Zugriff: 02.09.2014).